| Es hat wohl kaum eine Meinung mehr Verwirrung und
Unsicherheit in das Schulwesen und die Ansichten über dasselbe so
wohl bei dem größeren Publikum als auch bei denen hervorgerufen,
welche in der Schule und für dieselbe durch Beruf thätig sind, als
die, daß ALLGEMEINE MENSCHENBILDUNG und Berufsbildung sich
gegenseitig ausschließen. Sie hat zu dem Gegensatze der formalen und
materiellen Bildung geführt, indem es bei jener vorzugsweise, oder
ausschließlich auf die Ausbildung der edleren geistigen Fähigkeiten,
bei dieser auf Erwerbung gewisser für das Leben nützlicher
Kenntnisse abgesehen sein soll. Wie aber ist es möglich, die
geistigen Fähigkeiten zu bilden, ohne dabei Kenntnisse zu sammeln,
und wie ist es andererseits möglich, jene Kenntnisse zu sammeln,
ohne ein gewisses, vorhandenes Maaß von Geisteskräften zu ihrer
Erwerbung daran zu setzen, und aus dieser Kraftübung eine
Kraftentwickelung als Lohn davon zu tragen? Wir glauben vielmehr,
daß beide zusammenfallen.
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Was ist denn der Beruf? In dem Worte selbst liegt
etwas Höheres, Sittliches, Heiliges; es ist darin angedeutet, daß
jedem Menschen der Kreis seines Wirkens ursprünglich gegeben ist,
daß Gott selbst es ist, der ihn in diese Sphäre ruft und
hineinweiset; doch nicht in jener fatalistischen Weise, wornach der
Mensch selbst nichts zur Bestimmung seines Berufes beitrage, und
dadurch aller Verantwortung überhoben ist, wenn er sich in diesem
Berufe untüchtig zeigt. DER BERUF IST UND KANN NICHTS ANDERES
SEIN, ALS DIE ÄUSZERE SPHÄRE, IN WELCHER DAS ZUR THAT WIRD, WAS
INNERLICH ALS ERKENNTNISZ, ALS GESINNUNG UND HÖHERE TÜCHTIGKEIT SICH
GESTALTET, UND WOZU IN JEDEM EINE URSPRÜNGLICHE NEIGUNG VORHANDEN
IST. Woher
sollen denn nun jene Erkenntniß, jene Gesinnung, jene höhere
Tüchtigkeit kommen? Sie sind das Produkt des Unterrichts und der
Erziehung, und gleich nothwendig den niedrigsten wie den höchsten
Berufsarten. Der geringste Arbeiter soll das Maaß seiner materiellen
und geistigen Kräfte erkennen, womit er nach Außen schaffen kann; er
muß seine Stellung zu seinen Nebenmenschen verstehen, um durch
Gesinnungstüchtigkeit mit einzugreifen in das Getriebe des
geselligen Lebens; er soll endlich seine Stellung zu seinem Gotte
erkennen, um Muth und Kraft zu behalten, die Lasten zu tragen, die
ihn der täglich erneuerte Kampf des Berufes auferlegt. Und stellen
wir andere Forderungen an die höchsten Stände? - Sind demnach für
die verschiedenen Berufsarten die Forderungen so gleich, wie kann
also eine principielle Scheidung der Berufs- und allgemeinen
Menschenbildung gerechtfertigt erscheinen; man müßte denn unter
dieser etwas Anderes verstehen als die Uebereinstimmung im Fühlen,
Wissen und Können? Mit dieser Uebereinstimmung der allgemeinen
Menschenbildung und Berufsbildung ist nun zugleich die gleiche
Berechtigung aller Menschen zur Bildung ausgesprochen. Ob aber
dieser in gleicher Weise genügt werden kann, oder ob
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es auch gut sei, daß dieß geschehe, ist eine
Frage, welche durch die Lebenspraxis verneint wird.
In allen Zeiten, bei allen Völkern, auch bei den auf der niedrigsten
Stufe der Bildung stehenden sehen wir eine Verschiedenheit der
Berufsarten und der Stände. Vornehm und gering, reich und arm,
Herrscher und Beherrschte, Herren und Diener sind Gegensätze, die
sich durch alle Zeiten, Länder und Volker hindurchziehen, und die
unbefangenste Beobachtung führt bald darauf, daß diese Ordnung eine
göttliche ist, und daß alle jene socialistischen und communistischen
Gleichmachungsgelüste Titanenkämpfe gegen dieselbe sind. Das für
unsern Zweck thatsächlich Wichtige dieses Verhältnisses ist
Folgendes. Einer großen Zahl von Menschen aller Stände ist von Hause
aus ein so geringes Maaß von geistigen Kräften mitgegeben, daß sie
trotz aller auf sie verwandten Mühe und des gewissenhaftesten
Strebens von ihrer Seite sich nie zu einer selbstthätig schaffenden
Wirksamkeit erheben, sndern Zeitlebens nur Handlanger und treue
Gehülfen Anderer unter deren Anleitung und Führung bleiben. Mögen
sie auch immerhin unter günstigen äußeren Verhältnissen Mancherlei
lernen, sie können es nur so gebrauchen, wie andere sie anweisen.
Andere, besser Begabte zeigen sich ihr Lebenlang selbstthätig
schaffend, sobald sie von irgend einer Seite dazu angeregt werden,
und treten so überall gestaltend und regelnd in ihrem Berufskreise
auf. Auch wenn ein geringeres Maaß von Kenntnissen ihnen zu Gebote
steht, so können sie das, was ihnen zu Gebote steht, selbstständig
gebrauchen, und damit auf Andere einwirken. Nur sehr wenige
Ausgezeichnete, gewissermaaßen geistige Riesen, bedürfen der äußeren
Anregung nicht, sie brechen sich selbst ihre Bahnen, erscheinen als
die Vorkämpfer in Staat, Kirche und Wissenschaft, und die
kräftigsten unter ihnen treten als Lenker ganzer Jahrhunderte auf.
Diese Geister, entstammen sie der Hütte oder dem Palaste, brechen
hindurch durch alle
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Hemmnisse, welche ihnen des Lebens Wechselfälle auch
entgegenstellen mögen. Sie können hier füglich ganz unberücksichtigt
bleiben, wo es sich um Anstalten handelt, welche die ersten
Anregungen zu geistiger Thätigkeit geben sollen, nicht als ob für
sie dieselben überflüssig seien, sondern weil sie, wenn auch darauf
vorgebildet, doch ganz unabhängig weiter streben.
Man hat nun die Ersteren ausschließlich den niederen Ständen
zugewiesen, während man die Uebrigen in die höheren einrangirt hat.
Dieß ist factisch unrichtig; denn gar Mancher verbleibt in niederen
Berufskreisen und es ist ihm jene oben angedeutete geistige
Regsamkeit nicht abzusprechen, und wiederum sind viele schon durch
Geburt zu den höheren Ständen gezählt, und können in der
menschlichen Gesellschaft eben nur so verbraucht werden. Auch hat
man wohl die Scheidung gemacht, daß Erstere den practischen, die
übrigen den wissenschaftlichen Berufsarten zugehören. Wie viele der
Letzteren, welche auf Schulen und Universitäten so viel gelernt
haben, um ein Examen zu bestehen - denn nur wenige Menschen sind so
stiefmütterlich bedacht, daß sie nicht dahin gebracht werden könnten
- müßten dann ihre Laufbahn wieder aufgeben, und wie viel mehr
tüchtige Praktiker - Kaufleute, Oekonomen, Ingenieure u.s.w. - müßten umspringen und Gelehrte werden. Wenn ich auch immerhin
zugeben will, daß die wahren Förderer der Wissenschaft nicht unter
den ersteren zu finden sind, so ist doch auch sicher, daß ihnen die
Förderer irgend einer praktischen Lebenssphäre nicht zugehören. Es
kommt Alles aus das richtige Verhältniß zwischen Erkennen und Können
an. Gar Mancher kennt seine Berufsthätigkeit, es fehlt ihm nicht das
Wissen, aber das Können, und wieder lebt in Manchem die Thatkraft,
aber die Erkenntniß, das Wissen fehlt; bei beiden gebricht es sonach
an der Tüchtigkeit. Dieses richtige Verhältniß herzustellen, ist
Aufgabe der Bildung.
Von dieser Scheidung der Stände ist die GLIEDERUNG
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DER BILDUNGSANSTALTEN, DER SCHULEN hergenommen.
Da sehen wir denn zunächst die Gliederung IN ALLGEMEINE
BILDUNGSANSTALTEN und BESONDERE BERUFSSCHULEN. Für jene die
Gliederung in HÖHERE UND NIEDERE (Volksschulen und
Elementarschulen.) Die höheren Schulen gliedert man wieder in REAL-
und GELEHRTEN-SCHULEN. Die Fachschulen haben je nach den besonderen
Zwecken, denen sie dienen, ihren Namen, als: Bau-, Forst-, Handels-
u.s.w. Schulen, und ist in ihrer Organisation im Ganzen wenig
Schwanken, da bei ihnen der Zweck völlig bestimmt, daher der Plan
und die Unterrichtsmittel von Außen gegeben sind. Von ihnen wird
hier nicht zu reden sein. Weniger sicher ist man in der Gliederung
der Schulen, welche sich allgemeine Menschenbildung zum Zwecke
setzen. Zunächst ist leider die Meinung nicht selten, als seien die
Volksschulen nur für die niederen, die höheren Schulen für die
höheren Stände der menschlichen Gesellschaft bestimmt. Es erinnert
diese grundfalsche Ansicht gar sehr an chinesische
Mandarinenschulen, nicht aber an christliche Bildungsanstalten.
Ferner ist die Scheidung der Gelehrten- von der Real-Schule, so wie
sie in der Ansicht gar Vieler, selbst Schulleute, existirt, und hie
und da thatsächlich ausgeführt ist, nicht durchweg richtig, und
namentlich dann falsch, wenn die Gelehrten-Schule exclusiv nur für
den künftigen Gelehrten bestimmt sein, die Realschule ausschließlich
nur allerlei für das practische Geschäftsleben nützliche Kenntnisse
mittheilen soll. Consequente Durchführung dieses Princips muß
nothwendig den gebildeten Theil der Menschheit in einen
brahminenartigen Gelehrtenadel und ein egoistisches, nur Procente
machendes Yankeethum zerspalten. Der Grundfehler liegt darin, daß
man einmal nur den Stand als äußere Lebenssphäre und nicht den Beruf
in seiner tieferen und edleren Bedeutung im Auge hat, und
andererseits in Folge dessen als Hauptaufgabe der Schule die
Mittheilung von Kenntnissen und nicht die
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Bildung, d. i. die Erweckung jener schon mehrfach
erwähnten inneren Tüchtigkeit hinstellt, welche von jedem Menschen,
sei er Herr oder Knecht, Gelehrter oder nicht, vornehm oder gering,
reich oder arm, gefordert wird. Sie zeigt sich in treuer
ungetheilter Hingabe an die Berufspflichten, wie sie eine echt
christliche Nächstenliebe ihm auferlegt, in der Heilighaltung aller
göttlichen und menschlichen Rechte und in freudiger Genügsamkeit mit
dem einem Jeden von Gott verliehenem Loose. Wo diese Hingebung ist,
wird zugleich auch das Streben nach Herbeischaffung der Mittel zur
Erfüllung des Berufs, d. i. der nöthigen Kenntnisse und Fertigkeiten
von selbst gezeigt werden. Bei dem Kinde, dem Knaben und Jünglinge
ist freilich von einem Berufe noch kaum die Rede, sondern es ist in
ihm nur erst die Anlage dazu da. Zu welchem, ist schwer voraus zu
sagen. Daher wird man am richtigsten die Anlage zu jeder
Berufssphäre anzunehmen haben, zumal in den ersten Lebensjahren.
Darum auch ein gemeinsamer Anfang der Bildung in der
ELEMENTARSCHULE.
In dieser werden den Kindern, nachdem sie im Elternhause schon
mannigfache Anregungen, vor allen Dingen einen großen Vorrath an
Sprachmaterial planlos und gelegentlich erhalten haben, die
Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens auf einem mehr
mechanisch einübenden als rationellen Wege beigebracht. Dazu kommen
die ersten Erzählungen aus der biblischen Geschichte. Als Ziel gilt
im Allgemeinen, daß sie mechanisch richtig lesen, des Gebrauchs der
Schriftzeichen so weit mächtig sind, um deutlich Vorgesprochenes
ohne grobe Verstöße gegen Orthographie niederschreiben, die vier
Species mit größeren (mehrstelligen) Zahlen schriftlich, mit
kleineren (allenfalls zweistelligen) Zahlen im Kopfe mechanisch
geläufig handhaben; endlich die wichtigsten Geschichten alten und
neuen Testamentes ihrem Inhalte nach wissen, auch allenfalls die dem
kindlichen Leben
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näher liegenden zusammenhängend erzählen können.
Für Mädchen sind noch meistentheils Industriestunden (Unterricht im
Nähen und Stricken) eingerichtet. Darüber hinaus darf die
Elementarschule nicht gehen, und nimmt sie etwa ein oder das andere
Unterrichtsmittel noch auf, so muß es nur zur Ergänzung der eben
gedachten geschehen, nicht aber zur Erweiterung des Planes selbst.
Sehen wir nun aber ein Mal in eine Elementarschule hinein, so stellt
sich uns sogleich ein wesentlicher Unterschied in den Lernenden
entgegen. Um zunächst bei dem einfachsten Verhältnisse stehen zu
bleiben, so stellen wir uns eine Elementarklasse einer LANDSCHULE vor. Da sitzen in derselben Schulstube das Kind eines Knechtes oder
Tagelöhners, eines Käthners, des Zollcontrolleurs, eines
wohlhabenden Bauern, des Schullehrers, vielleicht auch des Pastoren
und was sonst auf dem Lande für Stände noch vertreten sein mögen.
Wir wollen Allen gleiche Fähigkeit zutrauen, bei Allen gleichen
Eifer in der Schule voraussetzen, ja den ersteren allenfalls ein
größeres Maaß beilegen. Es werden im Allgemeinen die Kinder der
materiell bedrängteren Eltern, welche die Kräfte ihrer Kinder schon
früh zum Broderwerb bedürfen, denen der weniger bedrängten
nachstehen, und wiederum zeigt sich bei äußerlich ähnlichen
Verhältnissen dann ein wesentlicher Unterschied, wenn vom Hause
selbst eine verschiedene Anregung Statt findet. Während dem Kinde
des Knechtes kaum Zeit gelassen wird, wieder an das zu denken, was
in der Schule vorkommt, - es muß spinnen, Gänse hüten, wird als
Laufbursche gebraucht, oder auf welche Weise es sich nützlich machen
muß - hat der Sohn des Bauern reichlich Zeit, und während beide
vielleicht wenig oder gar keine Anleitung oder Anregung zum Lernen
erhalten, wird der Sohn des Schullehrers und Pastoren auch zu Hause
fortdauernd auf seine eigene Ausbildung hingewiesen. Wenn so die
Einen eine längere Zeit nöthig haben, um ihre Elementarbildung zu
vollenden, sind die Anderen schnell
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damit fertig. Nun besteht zwar über dieser
Elementarklasse eine Oberklasse, welche aber darauf berechnet ist
und sein muß, daß die aus derselben Abgehenden mit der Confirmation
einen Abschluß bekommen. Dieser Abschluß besteht in einer tüchtigen
Kenntniß des Katechismus und der heiligen Schrift, einem reichen
Vorrath an auswendig gelernten Bibelstellen und Gesangbuchliedern,
als goldene Mitgift für ihr späteres Leben. Dazu Fertigkeit in
sinnvollem und gedankenmäßigem Lesen, Fähigkeit, sich schriftlich
einigermaßen verständlich auszudrücken, und die Fertigkeit im
Rechnen mit benannten Zahlen, namentlich Kenntniß der landesüblichen
Maaße, Münzen und Gewichte. Je nachdem dieses Confirmations-Alter
früher oder später (in Lauenburg mit 14, in Holstein mit 16 Jahren)
eintritt, wird die Schule im Stande sein, eine umfassendere
Belehrung in andern Dingen, namentlich Vaterlandskunde zu geben.
Jedes mit diesen Kenntnissen ausgerüstete Schulkind, ist schon im
Stande, in jeden bäuerlichen Beruf einzutreten, die ländlichen
Handwerke mitgerechnet. Die specielle Ausbildung für den Beruf fängt
an mit dem Momente, wo das Schulkind in den Dienst oder in die Lehre
tritt. Weniger aber darf auch nicht gegeben werden; denn welche
Herrschaft dürfte heut zu Tage wohl gern einen Dienstboten nehmen,
der nicht lesen, schreiben und rechnen könnte? Und dies ist doch das
am wenigsten selbständige Lebensverhältniß.
Für solche, welche, sei es durch die oben angeregten günstigeren
Umstände, schneller vorschreiten, oder über die einfacheren
bäuerlichen Verhältnisse hinausstreben, kann diese Vorbildung nicht
genügen. Vielfache Anregungen und Kenntnisse kommen ihnen von Außen
zu, welche sie mit der in der Schule erworbenen geistigen Ausbildung
nicht ordnen und überwältigen können. So entsteht ein Mißverhältniß
zwischen Wissen und Können, also Untüchtigkeit und Verbildung.
Hierin liegt demnach die Forderung einer höheren Bildungsanstalt.
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Bevor wir die Gestaltung einer solchen ins Auge
fassen, wollen wir das niedere STADTSCHULWESEN betrachten. In den
Städten macht nun zuvörderst meistentheils die größere Anzahl der
Kinder, die Trennung einer Freischule von der Bürgerschule, in
welcher Schulgeld bezahlt wird, und wiederum in dieser die Trennung
der Schulkinder nach den Geschlechtern nöthig. Hierdurch ist von
selbst das gewonnen, daß die Kinder, auf deren häusliche Thätigkeit
die Schule so gut als gar nicht rechnen kann, von den übrigen
gesondert sind und somit eine größere Gleichartigkeit erzielt wird.
Dem ungeachtet bleibt immer noch eine große Verschiedenheit. Denn
während ein großer Theil der Lernenden, wenn auch nicht durch
Dienste bei Fremden, doch durch Handreichungen im Hause - Hilfe im
Garten, Aufpassen im Hause, wenn (wie etwa ein Markt) größerer
Verkehr eine Hilfe nöthig macht, u. dgl. - außerhalb der Schule so
in Anspruch genommen wird, daß ihnen kaum Zeit für das kleinste von
der Schule aufgegebene Pensum bleibt, haben andere reichlich Zeit.
Und in diesem Falle kommt auch noch gar viel aus das Leben im Hause
an. Machen sich hier die Interessen des täglichen materiellen
Erwerbslebens in einer für das Kind recht auffälligen Weise
bemerkbar, so wird es durch diese meist dem Lernen mehr oder weniger
entfremdet, und bei aller ihm zu Gebote stehenden Zeit nicht in dem
Maaße regsam für die Schule sein, als ein Kind aus einem Hause, wo
die materiellen Interessen weniger merklich für das Kind sind.
Dadurch ist eben so als in den Landschulen für die Einen ein
längeres Verbleiben in den einzelnen Abtheilungen der Schule
bedingt, als für die Andern, und das Bedürfniß eines
verschiedenartigen Abschlusses der Schulbildung erzeugt. Im Großen
und Ganzen werden die Schüler einer Stadtschule regsamer und geistig
gewandter sein, und die untersten Stufen schneller absolviren, als
die Landkinder. Aus diesem Grunde können jene eher auch gesteigerten
Ansprüchen
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genügen als diese. Dies ist tatsächlich auch
ausgesprochen durch die Einrichtung der meisten Stadtschulen, indem
über der Elementarklasse in der Regel nicht bloß eine Oberklasse,
sondern deren zwei auch drei stehen, die man gewöhnlich mit dem
Namen der Cantor- und Rectorklassen belegt findet. Ganz wie in den
Landschulen bildet auch in den Stadtschulen der Religionsunterricht
den Mittelpunkt, ferner werden Lesen, Schreiben, Rechnen nächst
diesem die Hauptlehrgegenstände sein; aber in allen sind die
Forderungen nicht nur gesteigert, sondern es treten namentlich in
den Rectorklassen, Geographie, Weltgeschichte, selbst die Elemente
des Lateinischen und Französischen zu jenen Lehrgegenständen hinzu.
Wie aber auch immer eine solche Schule eingerichtet sein mag, so
wird dabei stets das Hauptaugenmerk darauf zu richten sein, daß
diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten, und die Charaktertüchtigkeit
darin erworben werden, welche ein rechtschaffener und umsichtiger
bürgerlicher Betrieb erfordert, daß das Wissen und Können sich
richtig ergänzen, und so die höhere Tüchtigkeit erworben werde. Vor
allen Dingen ist ein buntes Allerlei zu vermeiden, welches der
Zerstreutheit und Zerfahrenheit des Charakters Vorschub leistet, zu
welchen ohnehin die größere Mannigfaltigkeit des städtischen Lebens
so vielfach verlockt. Denn eben dieselben Umstände, welche im
Allgemeinen dem Städter größere Gewandtheit im Gegensatze zu den
Landbewohnern geben, enthalten auch die Elemente zur Untergrabung
des Charakters in sich. Das Maaß des mitzutheilenden Wissens muß der
ganzen Natur des Verhältnisses gemäß ein verhältnißmäßig geringes
bleiben, und kann keineswegs denen genügen, welche einen Beruf
anstreben, dessen Thätigkeit über die gewöhnlichen städtischen
Gewerbszweige hinausliegt. Solcher werden sich immer in jeder
Stadtschule noch genug finden. Für diese ist ebenfalls eine höhere
Bildungsanstalt ein Bedürfniß.
So weit die niedere Schule, nicht wie sie aus einer Theorie
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heraus construirt und combinirt ist, sondern wie
das Leben sie allmählich gestaltet hat. Weiter auf ihre Organisation
einzugehen, ist hier nicht nöthig, da dieselbe wohl überall eine
nahe zu gleiche, oder doch nur in unwesentlichen Punkten
abweichende, daher allgemein bekannte und anerkannte ist. Nicht so
einverstanden ist man über die Gliederung der HÖHEREN SCHULEN, indem
man zwischen den Extremen einer abstracten, ideellen, dem Leben
möglichst fremden Richtung und einer auf eine äußerliche
Nützlichkeit berechneten Schuleinrichtung hin und her schwankt. Man
scheidet nämlich von vorn herein die rein wissenschaftliche
Gelehrten-Schule von der ausschließlich auf das practische Leben
berechneten Realschule. Zu einer richtigen Würdigung dieses
Verhältnisses gelangen wir am besten, wenn wir in Kürze die
Entstehungsgeschichte des höheren Schulwesens betrachten.
In der frühesten Zeit ruhte nicht bloß der Unterricht, sondern alle
höhere Bildung in den Händen der Geistlichkeit. Die Klöster sind die
Pflanzstätten der Bildung. In ihnen werden die wissenschaftlichen
Schätze des Alterthums aufbewahrt; fromme Mönche machten es sich zur
Aufgabe, die Jugend in allen möglichen Kenntnissen zu unterweisen.
Kein Wunder, wenn aller Unterricht auf die Zwecke der Kirche
berechnet war. Jedoch nahmen schon sehr frühe auch Andere am
Unterrichte Theil, als solche, die sich für den geistlichen Stand
vorbereiteten. In den Lehrplan werden schon frühe Realien
(Mathematik, Logik auch sogar naturwissenschaftlicher Unterricht)
aufgenommen, immer aber bildet das Latein den Mittelpunkt, theils
weil es die Kirchensprache, theils weil es die Sprache der
Wissenschaft war. Diese Bedeutung verliert freilich das Latein
später, als die Muttersprache diese Rolle übernimmt, wovon vor allen
Dingen das Zeitalter der Reformation Ursache ist. Nicht bloß auf dem
Gebiete der Kirche sehen wir die Blicke sich erweitern, sondern auch
auf dem Gebiete des Staats und der Natur. Namen wie Kopernikus und
Columbus
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leuchten aus jener Zeit herüber gleich Sterne erster Größe. Mit
dieser Erweiterung des Blickes war nothwendig eine Menge von
Anschauungen, Begriffen und Kenntnissen verbunden, für welche sich
im Alterthume weder ein Anknüpfungspunkt, noch ein Analogon finden
läßt. Das Latein konnte dafür nicht mehr genügen, eine andere
Sprache der Wissenschaft mußte sich mehr und mehr geltend machen, je
größeres Material angehäuft wurde. Lange freilich mußte unsere
Muttersprache kämpfen, ehe sie dazu tauglich wurde, und noch im
vorigen Jahrhunderte wurden bedeutende wissenschaftliche Werke
lateinisch geschrieben. Mitten in diesem Ringen schwächt sich aber
das Studium des klassischen Alterthums durchaus nicht ab, sondern
erwacht seit der Reformation und durch dieselbe mit neu belebter
Energie. Nicht allein daß man, je weiter man vordrang, desto mehr
einsah, wie die ganze Bildung in dem Alterthume wurzele, sondern die
Beschäftigung mit den Griechen und namentlich den Philosophen
gestaltete die Behandlung der Wissenschaften neu; und mögen sich die
Verfechter des materiellen Realismus noch so arg gebärden, noch heut
zu Tage schreiten die von ihnen so hoch gestellten
Naturwissenschaften in der von Aristoteles vorgezeichneten Bahn der
Induction vor, wenn auch - und anders wäre es schlimm - auf eine
Unendlichkeit von Thatsachen sich stützend, welche den Alten fremd
waren; noch immer findet der logische und grammatische Bau der
lebenden Sprachen seinen Regulator an der lateinischen Sprache; noch
immer müssen Juristen das corpus juris studiren und bilden römische
Institutionen die Grundlage vieler staatlicher Einrichtungen und
Gesetze. Wie man einem Baume seine Lebenskraft und Frische nimmt,
wenn man ihn in einen anderen Boden verpflanzt, als worin er von
Natur erwachsen ist, so würde man auch das höhere Bildungswesen
entkräften, wenn man es seiner klassischen Grundlage beraubte. Für
die sogenannten gelehrten Stände, d. h. diejenigen, welche für ihren
Beruf der Universitätsstudien bedürfen, wird
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dieß ohne Weiteres zugestanden; nicht so für die
praktischen. Diese Ansicht ist nicht neu.
Denn als im vorigen Jahrhunderte die lebendigere Aufnahme und
Förderung der mathematischen und Naturwissenschaften in Verbindung
mit der fortschreitenden Vervollkommnung des Weltverkehrs diesen
Wissenschaften immer mehr Freunde erwarb, tauchten die ersten Ideen
der Realschule auf; jedoch mehr in Folge einer Opposition gegen eine
fehlerhafte Richtung der Gelehrten-Schulen, als eines klar bewußten
Planes. Auf vielen von diesen ward nämlich weit mehr auf eine
lateinische Parlirkunst, als auf gründliches Verständniß des
Alterthums hingearbeitet. Bei Strafe war es den Knaben verboten,
auch im vertraulichen Umgange mit Kameraden anders als Latein zu
reden. Wie oft mußte dem Begriffe das Wort, und wiederum dem Worte
der Gedanke fehlen? Daß so zugeschulte Jünglinge nirgends zu
brauchen waren, ist klar. Aber man verfiel in ein anderes Extrem.
Man wollte NÜTZLICHE KENNTNISSE, und ohne zu fragen, wem und zu was
nützlich, griff man zu, wie einer, der à la charte speist, planlos
sein Mittagsmahl vom Speisezettel zusammensetzt. So z. B.
unterrichtete man in der vom Prediger SEMMLER in Halle eröffneten,
mathematischen, mechanischen und ökonomischen Realschule bei der
Stadt Halle die Kenntnisse vom Gewicht, Maaß, Gebrauch des Zirkels,
die Wissenschaft des Kalenders, Astronomie, Geographie, Kenntniß
physikalischer Dinge, als der Metalle, gewöhnlichen Steine, der
Edelsteine, Hölzer, Farben, Zeichenkunst, Ackerbau, Gartenbau,
Anatomie und Diät, das Nöthigste der Polizeiordnung, Hallische
Chronica, Landkarte von Deutschland und des Herzogthums Magdeburg. -
Die HECKERsche, jetzt Königliche Realschule in Berlin hatte einen
Cursus über Lederhandel, und rühmt, daß die Schüler durch Anschauung
vieler, der Schule gehörigen Lederproben, Sohlenleder, Juchten,
Korduan u.s.w. geläufig unter-
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scheiden könnten. In so augenscheinlich verkehrter
Weise verfahren die Realschulen jetzt zwar nicht mehr; aber was sie
gebessert haben ist das, daß sie sich in Methode und
Unterrichtsmaterial enger an die Gymnasien angeschlossen haben,
indem sie wenigstens neben der Rücksicht auf das Erwerben nützlicher
Kenntnisse die geistige Uebung der Zöglinge in den Vordergrund
gestellt haben. Suchen wir uns einmal klar zu machen, was nützliche
Kenntnisse sind? Die Antwort darauf fällt nach örtlichen und
temporären Rücksichten verschieden aus. Heut zu Tage, wo der Handel,
so wie alle auf materiellen Erwerb gerichteten Lebenssphären mehr
als je das sociale Leben bewegen, fordert man, daß schon dem Kinde
alles das gelehrt werde, was darauf Bezug haben mag. Neue Sprachen,
Rechnen, Schreiben, nächst ihnen die mathematischen und
Naturwissenschaften stehen gut im Cours, und durch sie hofft man den
Knaben gar bald dahin zu bringen, daß er Geld verdienen kann. Allein
auch die Realschulen der Gegenwart sehen an verschiedenen Orten
verschieden aus. In Handelsstädten sehen wir ein Vorwalten der neuen
Sprachen, während in anderen die Naturwissenschaften voranstehen,
und wieder andere Realschulen gar sehr den Gelehrtenschulen ähnlich
sind. Es ist mit einem Worte eine Principlosigkeit überall sichtbar,
woraus ein für die geistige Entwickelung der Zöglinge gefährliches
Experimentiren entspringt, welches gegen die Sicherheit der
Gymnasialbildung einen schneidenden Contrast bildet. Nehmen wir
dazu, daß die meisten Vorstände technischer Bildungsanstalten
tüchtige Secundaner eines Gymnasiums den Abiturienten einer
Realschule den Vorzug geben, daß die englischen höheren
Bildungsanstalten- und die Engländer sind doch ein praktisches Volk
- den alten Sprachen ein sehr bedeutendes Uebergewicht gestatten, so
müssen wir in der Werthschätzung einer nur auf Erwerbung nützlicher
Kenntnisse abzielenden Jugendbildung sehr zweifelhaft werden. Bei
Abschätzung des Nutzens der Kenntnisse sollte man doch billig
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fragen, wer den Nutzen ziehen soll? Der künftige
Kaufmann, Forstmann, Soldat, Seemann, Bergmann oder wer denn?
Antwort: Keiner besonders, sondern alle! So wären wir denn wieder
bei der Uebereinstimmung der allgemeinen Menschenbildung und
Berufsbildung angelangt. FÜR DAS GESAMMTE LEBEN SOLLEN DIE SCHULEN
BILDEN UND ERZIEHEN; auf diesen Grundsatz muß nothwendig jede
eingehendere Betrachtung zurückführen.
Wie erscheint nun das Leben? Ich glaube die Formen, in denen es zur
Erscheinung kommt, einfach ALS KIRCHE, ALS GESELLSCHAFT DER MENSCHEN
UND ALS NATUR bezeichnen zu müssen. Für jede dieser drei Formen muß
jeder Mensch erzogen werden, weil jeder allen dreien angehört. Schon
in den Elementarschulen sehen wir die ersten beiden Gebiete durch
Unterrichtsmittel vertreten - Religionsunterricht, Lesen, Schreiben,
Rechnen. Das letzte Gebiet kann auf dem Lande füglich ganz
unberücksichtigt bleiben; denn ein einigermaßen geweckter Landknabe
weiß aus Erfahrung mehr von der Natur, als die meisten Stadtkinder
bei allem Unterrichte, zumal wenn diesem die Anschauung fehlt. In
den Stadtschulen ist ein gutes Lesebuch mit dahin einschlagenden
naturhistorischen Lesestücken völlig ausreichend. Die niedere Schule
übt dem Leben gegenüber keine die Natur entfremdende Gewalt aus.
Anders in den höheren Schulen. In ihnen sehen wir demnach
Unterrichtsmittel, welche jede der oben erwähnten Formen besonders
zur Sprache bringen.
Anlangend das Gebiet der Kirche muß die Schule durch die Lehre, d.
h. durch Unterricht den Schülern Religionskenntnisse mittheilen, und
zwar nicht etwa allgemeine pantheistische Vorstellungen wecken, oder
dürre Moral predigen, sondern ganz positiv auf Grund eines
bestimmten Glaubensbekenntnisses Religion lehren. Jeder Versuch, es
anders zu machen, artet in hohle Phrasenmacherei aus, und kann nur
verderblich wirken. Allein mit der besten Lehre ist immer nur ein
Anfang gewonnen, wenn nicht
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dafür gesorgt wird, daß die ganze Haltung der
Schule eine Frucht derselben sei. Es ist sehr leicht, durch strenge
Schulpolizei Gehorsam gegen die Lehrer, Verträglichkeit der Schüler
unter einander, legales Wesen nach Außen zu erzwingen; allein das
ist keine Schuldisciplin. Mag diese immerhin durch Gesetze normirt
sein, so soll sie doch vorzugsweise auf Liebe und Vertrauen
sämmtlicher Mitglieder der Schule, der Lehrenden und Lernenden zu
einander ruhen. Nicht, weil das Gesetz es vorschreibt, soll z. B.
der Lehrer strafen, sondern um den Bestraften sittlich zu heben,
also aus Liebe; nicht, weil das Gesetz es will, soll der Schüler
fleißig sein, sondern aus Liebe zur Sache und zum Guten an sich. Das
ist das ideale Ziel der Schuldisciplin. Wird dieses angestrebt, so
erzeugt der Religionsunterricht das Wissen, die ganze Ordnung der
Schule das Können, und beide zusammen geben dann die Tüchtigkeit für
die kirchliche Gemeinschaft, für ein christliches Leben. Daß in
dieser Vorbereitung für das kirchliche Leben schon ein wesentlicher
Theil der Vorbildung für die beiden andern Lebensformen liege,
bedarf wohl keiner Ausführung, wohl aber dürfte es am Orte sein,
hier eine Bemerkung über die Schwierigkeiten zu machen, welche sich
der Erreichung des oben genannten Zieles in den Weg stellen. Wie
schon erwähnt, ist die Lehre eben nur der Anfang, wenn gleich ein
nothwendiger; aber das Einleben ist das, was die christlichen
Glaubenslehren aussprechen, ist das Wesentliche. Auch dazu gibt die
Schule Gelegenheit; kann aber ALLEIN nur wenig thun. Das ist der
Punkt, wo sie vor Allem die Mithilfe der häuslichen Erziehung
bedarf, und daher mit Recht fordert. Leider aber wird dieser
Forderung nur zu oft nicht genügt. Fälle offenbaren Widerspruchs
gegen die Schule gehören zwar zu den Seltenheiten; vielmehr ist es
sehr häufig, daß die Eltern zufrieden damit sind, daß die Schule
ihnen die Last der Erziehung der Kinder zum größten Theile abnimmt.
Allein eben dann findet sich oft in dem ganzen häuslichen Leben
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eine derartige Richtung auf Aeußerliches und
Materielles, daß das, was die Schule aufbaut, täglich wieder
niedergerissen wird. Oder auch die Eltern kümmern sich wirklich um
die Erziehung ihrer Kinder, haben auch den besten Willen, der Schule
in die Hände zu arbeiten; aber eine falsch verstandene Liebe zu den
Kindern hält jede Anstrengung, die von dem Kinde gefordert wird, für
Härte, und gar eine Strafe für Barbarei. In beiden Fällen kann der
Geist der Liebe in der Schule nicht gedeihen, und die Schule muß
unverschuldet sich den Vorwurf machen lassen, sie genüge ihrer
Aufgabe nicht. Diesen Vorwurf, zumal wenn er ungerecht ist, könnte
sie sich gern gefallen lassen, handelte es sich nicht zugleich um
eine Gefahr für den zu Erziehenden. Ohne daß es ausgesprochen zu
werden braucht, wird er bald durchfühlen, daß zwei entgegengesetzte
Faktoren, Schule und Haus auf ihn täglich einwirken, und zweien
Herren dienen zu müssen glauben. Unsicherheit und Zerfahrenheit des
Charakters ist nothwendige Folge davon. Die Vorbildung für das Leben
in der Kirche bleibt auf diese Art gleich Null, für das Leben
überhaupt also unvollständig.
Wenden wir uns nun zu der zweiten Form des Lebens, der MENSCHLICHEN
GESELLSCHAFT. Bei der Erziehung für diese handelt es sich nun zuerst
um die Herbeischaffung der Mittel für den Verkehr der Menschen unter
einander. Schon die Volksschule sorgt dafür durch Unterricht im
Lesen, Schreiben, Rechnen, der Muttersprache, Vaterlandskunde u.
dgl., doch mehr nur einübend, als wissenschaftlich begründend. Sie
weckt bis zu einem gewissen Grade das Können, weniger das Wissen.
Daher die Erscheinung, daß Leute, welche in der Schule schon einen
ziemlichen Grad sprachlicher Fertigkeit erreichten, nach längerer
Zeit ohne Uebung, obgleich reicher an Gedanken, doch ärmer an
Sprachfertigkeit sind. Die Sprache aber ist das wesentlichste Mittel
des menschlichen Verkehrs, daher auch die sprachliche Bildung in
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allen Schulen in den Vordergrund tritt. Die höhere Schule aber soll
nicht eine nothdürftige Uebung in den Sprachen, sondern die Kraft zu
völliger Sicherheit darin wecken. Dazu gehört einerseits
sprachliches Wissen und andererseits darauf basirtes Können. Jenes
wird durch Mittheilung der Sprachgesetze, d. h.. durch Unterricht in
der Grammatik, und des Sprachvorrathes, d. h. der der Sprache
angehörigen Begriffe und Worte, dieses durch Uebung gewonnen. Die
Unvollkommenheit sprachlicher Bildung, welche sich nur auf die
Muttersprache beschränkt, ist wohl so allgemein anerkannt, daß die
Forderung des Taktirens fremder Sprachen auf höheren Schulen als
unzweifelhaft anzusehen ist. Es handelt sich hier nur darum, ob alte
oder neuere, oder beide zugleich. Die Gymnasien haben die ersteren
mit Recht als Hauptlehrgegenstand bewahrt, den letzteren, meist nur
dem Französischen einen verhältnißmäßig kleinen Raum im Lehrplane
gestattet. Die Realschulen haben zum Theil jene ganz ausgeschlossen,
theils sie auf ein paar lateinische Stunden eingeschränkt. Von
vielen Realschulen wird jedoch die Klage geführt, daß ungeachtet
einer großen Zahl von Stunden in neueren Sprachen ihre Schüler an
eigentlicher Sprachtüchtigkeit hinter den Gymnasiasten gleichen
Alters zurückständen. Theils eigne Beobachtung, theils die
Kenntnißnahme der Erfahrungen anderer, wissenschaftlich gebildeter
Schulleute haben in mir die feste Ueberzeugung hervorgerufen, daß
jede höhere sprachliche Bildung auf ein gründlicheres Eingehen in
die alten Sprachen, namentlich die lateinische gestützt sein müsse.
Es mag immerhin möglich sein, daß jemand ohne Latein fertig
Französisch, Englisch und Deutsch spricht und schreibt, wie das ja
die meisten gebildeten Frauen und viele Kaufleute beweisen; ja noch
mehr, es gibt viele recht gebildete Menschen, die nie eine Sylbe
Latein in der Schule lernten; aber mit einer unsäglichen Mühe haben
sie ihre Bildung sich überall zusammensuchen müssen, und die
Aufrichtigen unter ihnen bedauern um so mehr den Mangel
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an Kenntnissen in den alten Sprachen, je höheren
Standpunkt der Bildung sie einnehmen. Daß freilich einige
lateinische Vokabeln, und etwas Decliniren und Conjugiren
(Formlehre) hier nichts helfen, liegt klar vor. Es muß wenigstens so
viel erreicht sein, daß ein leichterer lateinischer Schriftsteller
ohne große Schwierigkeit - die Sacherklärungen abgerechnet -
verstanden werden kann, d. h. als ein für die Versetzung nach einer
Gymnasialsecunda reifer Schüler können soll.
Aus diesen freilich nur aphoristischen Bemerkungen wird man ersehen,
wie ich sowohl für Gelehrte als Nichtgelehrte eine gleiche Grundlage
der Bildung und zwar die der unteren und mittleren Gymnasialklassen
fordere. Aus dieser gemeinsamen Grundlage erwächst ein dreifacher
Gewinn. 1. Die lateinische Grammatik gibt auf die vollständigste und
einfachste Weise die Grundzüge jeder Grammatik, - wenigstens der
wichtigsten europäischen Sprachen. 2. Der ganze Bildungsgang der
Gymnasien ist ein sicherer, ruhig fortschreitender, daher von
nachtheiligem Experimentiren und subjectiven Ansichten freierer, als
der der Realschule. 3. Die Zeit der Entscheidung für einen Jüngling,
ob er studiren wolle und könne, ist weiter hinausgeschoben und
dadurch der Gefahr des Ergreifens einer unpassenden Laufbahn mehr
vorgebeugt. Der Vortheil, daß eine größere Verständigung der
verschiedenen Stände auch für das spätere Leben herbeigeführt werde,
wenn Alle in die oberen Gymnasialklassen gelangten, ist wohl mehr
eingebildet, als in Wahrheit begründet. Um jedoch auch hier den
äußeren Verhältnissen, wie sie ein Mal liegen, gerecht zu werden,
muß bemerkt werden, daß in, namentlich größeren Städten, wo ein
Stand entschieden vorwaltet, und nur in Ausnahmsfällen ein Jüngling
nicht diesen Stand erwählt, die Mehrzahl der Bildungsanstalten auf
Vorbildung zu diesem Stande schon so früh als möglich hinarbeitet,
ja daß äußere Verhältnisse dieses geradezu gebieterisch fordern. So
haben die meisten Schulen großer Handelsstädte,
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selbst Volksschulen, entschieden einen derartigen
Zuschnitt, daß nur Solche daraus hervorgehen, die einen auf Handel
und Wandel berechneten Beruf wählen. Ob auch hier nicht ein anderer
Modus besser sei, ist fraglich, und so lange diese Frage nicht
entschieden ist, haben daselbst die Realschulen ihre Berechtigung.
Höhere Schulen an kleineren Orten dagegen, ja selbst schon in
Mittelstädten, welche ihre Zöglinge aus den mannigfachsten Ständen
erhalten und für dieselbe vorbilden, werden besser die
Gymnasialeinrichtung beibehalten. Stellt sich ja bei ihnen das
Bedürfniß heraus, den künftigen Praktikern einen besondern Abschluß
ihrer Bildung zu geben, so werden sie besser thun, neben Secunda
oder höchstens Tertia eine Parallelklasse einzurichten, in der durch
Zurücktreten der klassischen Sprachen dem Unterricht in den neuern,
so wie in Realwissenschaften (Mathematik und Naturwissenschaften)
ein weiterer Spielraum gelassen wird, was ja um so leichter
geschehen kann, da die Gymnasien diese Gegenstände schon in ihrem
Lehrplane haben.
Daß historischer und geographischer Unterricht mit auf die
Vorbildung für das Leben, so weit es in der Form der menschlichen
Gesellschaft erscheint, hinwirken und nächst den Sprachen zu den
wesentlichsten Bildungsmitteln gehören, ist durch Aufnahme derselben
in jeder höheren Lehranstalt ausgesprochen, und so allgemein
angenommen, daß sie eben nur einer kurzen Erwähnung hier bedürfen.
Was nun die Vorbildung für die dritte Lebensform, DIE NATUR anlangt,
welche durch mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht
erzielt wird, so haben die dahin einschlagenden Wissenschaften eben
so übertriebene Lobredner, als es auch nicht an solchen fehlt, die
sie geradezu verdammen. Jene huldigen entweder einem übertriebenen
Nützlichkeitsprincipe, indem sie in diesem Unterrichte nichts als
die Vorbereitung zu allerlei technischen Berufsarten sehen, bedenken
aber nicht, daß jedes technische
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Fach in einzelnen Zweigen eine weit speciellere
Vorbereitung verlangt, als die Schule sie zu geben vermag, während
es andere gänzlich ausschließt, welchen die Schule eine größere
Aufmerksamkeit zu widmen hat. Oder die Lobredner huldigen einem
gefährlichen Pantheismus, und wollen den naturwissenschaftlichen
Unterricht geradezu an die Stelle des Religionsunterrichts gesetzt
wissen. Daß dieser Richtung mit Macht entgegengearbeitet werden muß,
darf kaum bemerkt werden. Wenn man aber dieselbe mit dem Wesen der
Naturforschung identificirt, so irrt man gewaltig. In diesem Irthum
treffen Freunde und Gegner der Naturwissenschaften zusammen. Leider
gelten Vogt, Büchner und Consorten als Naturforscher, welche die
Einen als Evangelisten verehren, gegen welche die Andern zunächst zu
Felde ziehen, aber das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn sie gegen
die Naturforschung überhaupt auftreten. Von beiden Seiten mag, ich
will annehmen der Mehrzahl nach eine wohlmeinende Absicht zu Grunde
liegen, und dann ist der Irthum zu bedauern. Es sind das die Leute,
die am Ende wachend und schlafend von Tischrücken, Geisterklopfen
und anderem Spuck träumen. Oft aber ist boshafte Absicht nicht fern;
man will im Trüben fischen. Dann hat freilich der Kampf etwas
Widerwärtiges und fast Diabolisches. Von dieser überspannten
Naturbetrachtung, welche den Namen der Wissenschaft nicht verdient,
ist jede Naturwissenschaft frei. Sie will nur Naturphänomene, so wie
sie sind erkennen, das Gemeinsame an ihnen, so wie ihre
Verschiedenheiten finden, und so in Allen Ordnung und Gesetz
nachweisen. Damit aber hat sie bisher schon Großes geleistet und
wird es auch ferner thun. Für die Jugend entspringt aus
naturwissenschaftlichem Unterricht eine unbefangene, daher von den
Banden der Natur in demselben Grade freie Stellung zu ihr, als die
Erkenntniß der Ordnung in ihr wächst. Ist schon an sich jene
Verwirrung der Gebiete verwerflich, so wirkt sie für die Jugend
entschieden schädlich. Gegen diese Verwirrung muß jeder
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Vernünftige protestiren, gegen eine unbefangene
Beschäftigung, wie sie eben bezeichnet ist, ist dagegen kaum eine
Opposition denkbar. Es erscheint dieselbe vielmehr als ein
wesentliches Bildungsmittel gegenüber den andern
Schulwissenschaften, die zwar nicht geradezu der Naturbetrachtung
abhold sind, wohl aber durch Nichtbeachtung derselben dem zu
bildenden Jüngling ihr entfremden.
Wenn nun gleich auf diese Weise sich drei Unterrichtsgebiete
herausstellen, so steht doch keins außer Beziehung zu den andern. Es
ist schlechthin unmöglich, daß z. B. historische und literarische
Studien ohne Zusammenhang mit dem aus dem Religionsunterricht
Gewonnenen, oder dieser ohne Bezugnahme auf das Menschen- und
Naturleben bleiben könne. Alle drei Gebiete wirken zusammen
Gemeinsames, nämlich allgemeine Menschenbildung.
Diese Aphorismen über das Schulwesen im Allgemeinen werden genügen,
um den Standpunkt zu bezeichnen, aus welchem das lauenburgische
Schulwesen demnächst betrachtet werden soll.
(Fortsetzung folgt im 2ten Hefte.)
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